Tibet und die Schweiz

Geschichte der tibetischen Immigration in die Schweiz

In der Schweiz lebt derzeit mit ca. 8’000 Tibeterinnen und Tibeter die grösste exil-tibetische Gemeinschaft in Europa. Jedoch besteht die tibetische Diaspora hierzulande aus Menschen mit völlig unterschiedlichen Hintergründen: Familien, die in den 60er-Jahren mit dem Schweizerischen Roten Kreuz in die Schweiz gebracht wurden; ehemalige Flüchtlingskinder, die damals mit der Pflegekinderaktion von Charles Aeschimann bei Schweizer Familien untergebracht wurden; junge Tibeterinnen und Tibetern, die hier geboren sind und ihre Heimat nur aus Erzählungen der Grosseltern kennen; aber auch kürzlich eingewanderte Asylsuchende sowie abgelehnte Sans-Papiers, die sich mit verschärften Bedingungen auseinandersetzen müssen. Bald 60 Jahre zählt die Geschichte der tibetischen Immigration in die Schweiz. Sie gilt als geglückt. Doch vieles hat sich in den letzten Jahren verändert. Ein Überblick:


Tibeterinnen und Tibeter als “Musterflüchtlinge”

Aufgrund der gewaltsamen Annexion Tibets 1950 durch China und der brutalen Niederschlagung des Volksaufstandes 1959 musste Seine Heiligkeit der Dalai Lama ins Exil fliehen, gefolgt von Hundertausenden von Tibeterinnen und Tibetern. Da die Situation im grössten Aufnahmeland Indien sehr prekär war, entschied sich die Schweiz, tibetische Flüchtlinge aufzunehmen. Auf eine erste Gruppe, die am 25. Oktober 1961 am Flughafen Kloten eintraf, folgten weitere 4’000 Geflüchtete, überwiegend Familien[1]. Als eine der ersten aussereuropäischen Flüchtlinge wurden die Tibeterinnen und Tibeter damals mit offenen Armen empfangen. Die Flüchtlinge wurden nach ihrer Ankunft in den Gemeinden, die sich zu ihrer Aufnahme bereit erklärt hatten, vom Schweizerischen Rote Kreuz begleitet. Um die eigene Kultur bewahren zu können, wurden sie in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht[2]. Auch die Sympathie aus der Bevölkerung war gross – in einer Zeit in der Migrationsfragen durchaus kritisch diskutiert wurden. Zum einen werden Gründe oftmals im Kontext des Kalten Krieges gesehen, da in dieser Zeit die Schweizer Behörden generell bereit waren, politische Flüchtlinge aus kommunistischen Ländern aufzunehmen[3], zum anderen wird oftmals von einer Solidarität von einem Bergvolk zum anderen gesprochen[4].


Verschärfung der Praxis

Im Laufe der Zeit verschärfte sich jedoch die Migrationspolitik in der Schweiz generell. Auch gegenüber Flüchtlingen aus Tibet weht heute ein anderer Wind. So erhalten tibetische Asylsuchende meist nur noch den Status von einer vorläufigen Aufnahme (Ausweis F), was gegenüber den früher Aufgenommenen eine deutliche Verschlechterung des Status bedeutet[5]. Seit der in 2014 eingeführten Praxisänderung hat sich die Situation nochmals verschärft: “Just im Jahr, als das chinesisch-schweizerische Freihandelsabkommen in Kraft trat, entschieden die Schweizer Behörden, dass Flüchtlinge mit tibetischer Ethnie künftig mit offiziellen Papieren belegen müssen, dass sie nicht in einer exiltibetischen Gemeinde in Indien oder Nepal aufgewachsen sind”[6]. Die sogenannte Umkehr der Beweislast führte dazu, dass die Schutzquote drastisch sank und der Anteil abgewiesener Asylentscheide von Tibeterinnen und Tibetern stark angestiegen ist[7]. Jedes zweite Asylgesuch wird abgelehnt. Ende 2017 waren es bereits 266 Tibeterinnen und Tibeter, die einen Wegweisungsentscheid erhalten haben. Es wird erwartet, dass die Anzahl in den nächsten Jahren nochmals stark ansteigen wird.


Leben in der Illegalität am Rande der Gesellschaft

Tibeterinnen und Tibeter mit einem Wegweisungsentscheid werden in die Illegalität getrieben, ihnen drohen Strafverfahren und Gefängnisstrafen wegen illegalen Aufenthalts, obwohl eine Ausreise nicht möglich ist[8]. Eine letzte Option zur Regularisierung ist ein Härtefallgesuch[9]. Doch auch hier werden ihnen Steine in den Weg gelegt: Unterschiedliche kantonale Handhabungen, verschiedene Voraussetzungen und vor allem fehlende Identitätspapiere führen oft zu einer Abweisung eines Härtefallgesuchs. Denn so stellt sich bei den Tibeterinnen und Tibetern eine spezielle Herausforderung: Im Gegensatz zu anderen Flüchtlingen haben sie keinen Heimatstaat mehr. Offiziell gelten sie in der Schweiz als Chinesen, können aber nicht nach China zurückgeschafft werden, weil sie dort verfolgt werden könnten. Die geschilderte Ausgangslage führt nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Kantone zu einer sehr unbefriedigenden Situation. So leben diese Personen in Notunterkünften, erhalten lediglich Nothilfe und dürfen nicht arbeiten. Die schwierige Lebenssituation führt sehr oft zu Verzweiflung und Depression der oftmals noch jungen Flüchtlinge ─ die eigentlich äusserst motiviert sind, sich hierzulande zu integrieren.

Aufgrund dieser Veränderungen und neuen Herausforderungen wurde Shenpen 2013 gegründet.

[1] https://geschichte.redcross.ch/ereignisse/ereignis/aufnahme-von-tibetischen-fluechtlingen.html
[2] https://geschichte.redcross.ch/ereignisse/ereignis/aufnahme-von-tibetischen-fluechtlingen.html
[3] https://www.nzz.ch/zuerich/du-gehst-in-die-schweiz-verhalte-dich-gut-ld.1421711
[4] https://www.swissinfo.ch/ger/politik/die-tibeter—erwuenschte-fluechtlinge-in-der-schweiz/8628692
[5] https://www.swissinfo.ch/ger/politik/die-tibeter—erwuenschte-fluechtlinge-in-der-schweiz/8628692
[6] Siehe Entscheid vom 20. Mai 2014 (BVGE 2014/12) indem das Bundesverwaltungsgericht seine bisherige Praxis gemäss EMARK 2005 Nr. 1 präzisierte.
[7] https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/schweiz-weist-mehr-tibetische-fluechtlinge-zurueck/story/22588400
[8] https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/asylgesuch-abgelehnt-ausreise-unmoeglich-sie-darf-nicht-hier-sein-und-kann-nicht-weg-131899364
[9] https://www.bernerzeitung.ch/region/kanton-bern/22-tibeter-reichen-haertefallgesuch-ein/story/31527601